Vom Recht des Kindes auf eigene Erfahrung
Seit Gundi Bahr als Atelierista im Haus der kleinen Lebenskünstler in der rheinland-pfälzischen Stadt Unkel arbeitet, ist noch kein Tag vergangen, an dem sie nicht über die Gewissenhaftigkeit im Umgang der Kinder mit scharfem Werkzeug, echtem Feuer und hohen Kletterbäumen staunt. Ein Beitrag über Selbstbestimmtheit, Verantwortung und riskante Entscheidungen.
»Kannst du mir mal das Messer da geben?«, fragt mich ein Junge, den Blick fest auf sein halbfertiges Kartonhaus gerichtet. »Du meinst den Cutter? Was hast du vor?«, frage ich zurück. »Ich hab mir hier Fenster vorgemalt, und mit der Schere kann ich die nicht ausschneiden. Mit dem Messer geht das besser!« Ich bin mir da nicht ganz sicher und hake nach: »Soll ich dir helfen, oder schaffst du das alleine?« Die Antwort kommt prompt: »Ne, ich kann das. Beim Lukas draußen schnitze ich ja auch allein. Ich gebe dir das Messer dann auch gleich wieder zurück!« Ich schwanke zwischen »Lass mich das lieber machen!« und »Okay, ich denke, dass du das alleine schaffst!«
Vergleichsweise wild
Ich unterdrücke mein Bedürfnis, einzugreifen. Oder vielmehr: Ich versuche es und merke selbst, dass es mir nur mittelmäßig gelingt. Zu groß ist meine Sorge, dass sich der Junge in den Finger schneidet. Ich reiche ihm den Cutter, setze mich daneben, als könnte ich damit den möglichen Schnitt in den Finger verhindern, und bekomme eine prompte Rück- meldung: »Gundi, ich kann das wirklich!« Der Junge scheint sich selbst gut zu kennen und mich besser als ich ihn. Er geht wirklich vorsichtig mit dem Cutter um und achtet darauf, ihn immer vom Körper wegzuführen. Nachdem die Fenster ausgeschnitten sind, schiebt er die Klinge zurück in ihre »Garage« und legt den Cutter mit den Worten »Hier, ich bin fertig!« in meine Hand. Seit ich Gastgeberin des Ateliers in unserem Haus der kleinen Lebenskünstler in der Stadt Unkel bin, vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht, wie jetzt gerade, über unsere selbstbewussten Kinder staune.
Bei aller Freiheit
Typisch ist bei uns im Grunde nichts. Auf den Namen unserer Einrichtung werde ich etwa genauso häufig angesprochen wie auf unser vergleichsweise wildes Außengelände. Wir wissen natürlich, dass kein Kraut und kein Gras gegen 128 Kinder, einige Ziegen und unseren Kitahund Karl gewachsen sind. Doch lieber als ein gepflegter Rasen sind uns Kinder, die Stöcker und Steine umherschleppen, Feuerstellen betreiben und, selbstverständlich mit den richtigen Metallschaufeln, das Gelände für eine neue Tempelanlage umgraben und mit Hammer, Meißeln und Raspeln nachhelfen, wenn der Boden zu hart oder gar gefroren ist. Werkzeuge haben wir reichlich. Sind doch mal alle in Benutzung, werden die Kinder erfinderisch und raspeln ihren Speckstein an den Steinstufen, was sogar erstaunlich gut funktioniert. In einiger Hinsicht geht es aber auch sehr geordnet zu. Für Holzarbeiten im Freien z.B. gibt es einen bestimmten Platz. Geschnitzt wird im Sitzen und vom Körper weg. Schnitzmesser werden nach Gebrauch einer Fachkraft zurückgegeben oder es wird Bescheid gesagt, nachdem man sie selbst an ihren Platz zurückgelegt hat.
Genau genommen haben wir bei aller Freiheit auch jede Menge Regeln. Die Kinder lernen mit zunehmendem Alter, wo sie tun und lassen können, was und wie es ihnen gefällt, und welche Aktivitäten mit welchen Regeln verbunden sind. Sie fühlen sich durch Regeln nicht begrenzt, sondern verinnerlichen sie während des Hineinwachsens in die Möglichkeiten, die sich ihnen bei uns bieten. Etliche dieser Möglichkeiten, wie z.B. die Tische und Sitzgelegenheiten aus Paletten und die Baumstümpfe, haben sie weitgehend selbst gestaltet.
Den sicheren Umgang mit Werkzeugen lernen sie mit unserer Begleitung. Den mit offenem Feuer lernen sie natürlich an der Feuerstelle selbst, aber auch in unserem Forscherraum. Vor allem in der dunklen Jahreszeit ist dieser Raum von den Kindern besonders frequentiert. Hier finden sie Materialien zu Themen wie Elektrizität oder Wasser. Für das Erlernen des Umgangs mit Feuer stehen ihnen ein Metalltablett mit einem Teelicht, einer Stumpenkerze und einer Tafelkerze sowie kurze und lange Streichhölzer, ein Stabfeuerzeug, ein Löschhütchen und eine Wasserflasche zur Verfügung.
Gut Kirschen essen
Kletterbäume haben wir gleich mehrere. Genau genommen zwei: Einen Kirschbaum, an dem sich schon die Jüngsten ausprobieren können, weil dessen erste Baumgabelung nur 30 cm über dem Boden ist, und einen Walnussbaum, an dem sich die Profis im Abseilen und Klettern im Klettergeschirr erproben können. Grundlagen für das Klettern, wie Balancieren oder das Abseilen, erarbeiten sich die Kinder auf unserer Bewegungsbaustelle mit vielen Elementen, die alle ohne großen Aufwand, sogar von den Kindern selbst, auf-, ab- und umgebaut werden können. Hier und an den Bäumen ist meist mein Kollege Lukas Garbe ihr Gastgeber. Er klettert gerne selbst und verfügt über viel Wissen, z.B. auch darüber, wie man Knoten macht. Weniger sichere Kinder begleitet er beim Klettern, Kinder mit viel Erfahrung dür- fen auch ohne seine Unterstützung in den Baum. Ich selbst habe Höhenangst und bekomme schon beim Zuschauen schwummrige Beine. Die Kinder verstehen das und schaffen es, wenn ich Aufsicht habe, ihre Bedürfnisse eine Zeit lang aufzuschieben. Sie wissen, dass ich in Not Geratene nicht aus dem Baum holen kann, und legen dann meist eine Kletterpause ein. Auf keinen Fall aber, weil ich ihnen das verboten hätte, sondern vermutlich weil sie selbst spüren, wie gut es ist, für Abenteuer eine sichere Begleitung zu haben.
Gundi Bahr ist Atelierista und ressourcenorientierte Kunsttherapeutin. Sie arbeitet seit 2014 im Haus der kleinen Lebenskünstler in Unkel. Freiberuflich unterstützt und begleitet sie Kita-Teams, die offen arbeiten wollen. Sie selbst hat sich zur Trauma-Pädagogin weitergebildet, andere aus ihrem Team haben Fort- und Weiterbildungen in Erlebnispädagogik absolviert. Mehr zum pädagogischen Alltag im Haus der kleinen Lebenskünstler erfahren wir in Gundi Bahrs Beiträgen Für Leib und Seele. Plaudern und Kochen am Lagerfeuer und Was denkst du? Ein Schlüssel zum Universum der Kinderantworten (beide in Betrifft KINDER 11/12-2022) und im 5-minütigen Film Ein Haus für kleine Lebenskünstler auf YouTube www.youtube.com/watch?v=JwBWnQv5BY (30.04.24).
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/2024 lesen.