Partizipation als Kinderschutz
»Das war doch nicht so schlimm!« Wirklich nicht? Hören, sehen und beachten wir die Sorgen und Ängste der Kinder im Alltag? Haben ihre Probleme und Beschwerden den gleichen Wert wie die der Erwachsenen? Bieten wir Kindern überhaupt einen Raum für Beschwerden – gerade im Umgang mit ungerechten und verletzenden Erwachsenen? Caroline Ali-Tani erklärt, warum Partizipation von Anfang an der Schlüssel dafür ist, Erwachsenen-Kind-Beziehungen gleichwertig und weniger gewaltvoll zu gestalten.
Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung bekommen seit einigen Jahren immer mehr Aufmerksamkeit. Kitas erarbeiten Kinderschutzkonzepte, und auch in der Öffentlichkeit und in den Medien ist Gewalt an Kindern – insbesondere im Kontext von sexuellem Missbrauch – präsent. Das ist auf der einen Seite gut und wichtig. Auf der anderen Seite ist das Thema Kinderschutz meist nur darauf ausgerichtet, Anzeichen zu erkennen, ob und wann eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und welche Schritte und Maßnahmen ergriffen werden müssen. Aber dann ist es schon zu spät! Hinzu kommt der Fokus auf körperlicher und sexueller Gewalt, die mittlerweile als solche erkannt und verurteilt werden. Subtilere Formen von Gewalt werden noch lange nicht gleichermaßen als Missbrauch und Verletzung eingeordnet. Außerdem richtet sich die Aufmerksamkeit eher auf den privaten, familiären Bereich. Doch auch in Institutionen und in der Öffentlichkeit, ja überall, wo Erwachsene mit Kindern interagieren, werden diese tagtäglich Opfer von Gewalt. Warum gehören Gewalterfahrungen immer noch zur Kindheit? Wie können wir dieses Ausgeliefertsein verhindern oder zumindest minimieren?
Ohne Partizipation kein Kinderschutz
Kinder haben ein Recht auf Partizipation. Sie ist der Schlüssel zu präventivem Kinderschutz. Wir müssen Kinder so früh wie möglich ermuntern und befähigen, sich mitzuteilen und zu beschweren. Das muss auch gegenüber Erwachsenen gelten – weil sie es sind, die jeden Tag Grenzen der Kinder missachten, übergriffig sind und Ängste und Bedürfnisse nicht ernst nehmen. Täglich erfahren Kinder, dass ihre Gefühle nicht richtig und wichtig sind: »Du musst jetzt gar nicht weinen!« »Stell dich mal nicht so an!« »Reiß dich jetzt zusammen!« Darüber hinaus wird immer wieder ungefragt über ihre Körper und Persönlichkeit verfügt und bestimmt: Kinder bekommen Kosenamen, werden ungefragt gestreichelt, hochgehoben, geküsst. Dieser Umgang ist so selbstverständlich, dass er selten – weder von Kindern noch von Erwachsenen – hinterfragt wird. Wenn wir allerdings die Kinderrechte ernst nehmen und Kindern den Status gleichwertiger Subjekte einräumen wollen, die auch eigene Grenzen definieren dürfen und sollen, müssen wir diese adultistischen Muster durchbrechen. Das ist nicht einfach, weil sowohl Kinder als auch Erwachsene bestimmte Muster der Erwachsenen-Kind-Beziehung erlernt haben. Dennoch gehört es zur Verantwortung aller, die Kinderschutz ernst nehmen. Es geht um einen generellen Bewusstseinswandel, der mit kleinen Schritten, Äußerungen, Handlungen im Alltag beginnt.
Was heißt eigentlich »sich beschweren«?
Im SGB VIII sind Bedingungen festgelegt, die für den Betrieb einer Einrichtung erfüllt werden müssen, sowie Kriterien, die für die Gewährleistung des Wohls von Kindern und Jugendlichen entscheidend sind. So müssen laut §45 »zur Sicherung der Rechte und des Wohls von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung die Entwicklung, Anwendung und Überprüfung eines Konzepts zum Schutz vor Gewalt, geeignete Verfahren der Selbstvertretung und Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten innerhalb und außerhalb der Einrichtung gewährleistet werden.« Aber welche Möglichkeiten haben Kinder tatsächlich, sich zu beschweren? Über wen dürfen sie sich beschweren, und werden ihre Beschwerden ernstgenommen? Wie oft hören Kinder: »Mach jetzt kein Drama draus!« »Dein Geschrei ändert gar nichts!« »Deine Probleme möchte ich haben!«
Wenn Kinder signalisieren, dass es ihnen nicht gut geht, dass sie wütend, traurig, frustriert oder ängstlich sind, d.h. wenn sie sich beschweren, wird das von Erwachsenen häufig nicht ernst genommen und banalisiert. Kinder sollen sich »zusammenreißen« und ihre Gefühle unterdrücken. Immer setzen Erwachsene den Maßstab, ob etwas wichtig ist und welche Beschwerden und Gefühle Beachtung finden. Kinder machen immer wieder die Erfahrung, dass ihre Gefühle nicht stimmen, dass ihre Ängste und Sorgen übertrieben sind, obwohl sie sie doch so stark fühlen, und dass Erwachsene es nicht wahr- oder ernst nehmen, wenn sie ihre Gefühle äußern.
Damit wird gravierenden Kindesmisshandlungen Tür und Tor geöffnet. Denn zum einen können Erwachsene sich sicher sein, dass ihr Handeln keine Konsequenzen hat, und zum anderen trauen Kinder ihren Gefühlen irgendwann nicht mehr. Sie haben gelernt, dass Erwachsene alles richtig ma- chen und bestimmen, was gut und was schlecht ist. Sie haben gelernt, dass Erwachsene ihnen oft keinen Glauben schenken.
Gleichzeitig – und das ist das Paradoxe – werden Kinder darin bestärkt, Nein zu sagen, wenn sie etwas nicht möchten. Die Ermutigung bezieht sich aber meist ausschließlich auf andere Kinder bzw. Peer-Interaktionen, wie in folgender Situation, in der zwischen zwei Mädchen ein kleiner Streit entstanden war.
Eine Erzieherin merkt, dass Lina sich beim Spielen durch ein anderes Mädchen bedrängt fühlt, und sagt zu ihr: »Wenn du etwas nicht möchtest, sagst du Stopp! Das gilt für alle Kinder!« Im Laufe des Vormittags beobachte ich häufig, wie die Kinder das Stopp-Zeichen, das mit einer hochgehobenen Hand signalisiert wird, gegenüber anderen Kindern nutzen. Grundsätzlich ist es wichtig, dass Kinder lernen, Konflikte selber zu klären und selbsttätig für sich und füreinander zu sorgen. Das Stopp-Zeichen ist eine häufig vermittelte Methode der Abgrenzung – aber gibt es auch einen Stopp gegenüber Erwachsenen? Ermächtigen wir Kinder auch dazu, Erwachsenen zu signalisieren, dass Grenzen überschritten werden und sie sich nicht wohlfühlen? Was nützt Kindern das Neinsagen, wenn es in den wirklich wichtigen Momenten sowieso nicht beachtet wird?
Ein erster Schritt wäre es, die alltäglichen Beschwerden der Kinder und ihr Nein – vor allem gegenüber uns Erwachsenen – viel bewusster und reflektierter wahrzunehmen. Kinder sagen nicht nur verbal Nein, sondern auch durch vielfältige Signale, z.B. indem sie den Kopf wegdrehen, weglaufen, sich winden oder Regeln nicht einhalten. Diese Signale sollten wir beachten, aufgreifen und mit den Kindern thematisieren: »Ich sehe/höre/merke, dass dir das gerade nicht gefällt. Was brauchst du von mir? Was gefällt dir nicht? Wie können wir eine gute Lösung finden? Ist es richtig, dass du das gerade nicht möchtest?« Kinder brauchen aktive Ermutigung und Bestärkung darin, ihre Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken: »Gut, dass du dich beschwerst! Gut, dass du signalisierst, dass dir das nicht gefällt! Ich sehe, du bist gerade wütend, traurig, verletzt ... Ist das richtig?« Auch wenn es natürlich immer Situationen gibt, in denen man nicht sofort die Bedürfnisse und Gefühle aller Kinder berücksichtigen kann, ist es zumindest eine wichtige Botschaft an die Kinder, dass sie gesehen und gehört werden.
Caroline Ali-Tani, M.A., arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin (aktuelles Forschungsprojekt: Vielfalt vor Ort begegnen, FH Erfurt), Fortbildnerin und Dozentin insbesondere zu den Themen Inklusion, Vielfalt, Vorurteilsbewusstsein, Partizipation und Kinderrechte in Kindertagesstätten und der frühpädagogischen Praxis.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/2024 lesen.